Merkur: Der heißkalte Götterbote

Merkur: Der heißkalte Götterbote
Merkur: Der heißkalte Götterbote
 
Merkur ist der innerste der neun Planeten des Sonnensystems. Er ist mit bloßem Auge am Himmel zu sehen, aber nicht einfach zu finden, da er nur während weniger Wochen im Jahr und auch dann nur kurz vor Sonnenaufgang oder kurz nach Sonnenuntergang, auf jeden Fall aber in der Dämmerung zu beobachten ist. Merkur besitzt eine der außergewöhnlichsten Sonnenumlaufbahnen des Planetensystems, welche die direkte Überprüfung von Effekten der allgemeinen Relativitätstheorie ermöglicht. Durch die bislang einzige Raumsonde, die diesen Planeten besuchte, wurde eine mondähnliche Oberfläche enthüllt, die vollständig mit Kratern bedeckt ist. Anzeichen für Vulkanismus oder Plattentektonik fehlen ganz. Trotz der kurzen Zeitspanne, in der diese Sonde den Planeten erforschen konnte, mussten die bis dahin herrschenden Vorstellungen vom Merkur durch die neuen Erkenntnisse weitgehend revidiert werden.
 
 
Merkur ist nicht nur der innerste, sondern auch der schnellste Planet des Sonnensystems — er benötigt weniger als drei Monate, um die Sonne zu umrunden. Daher assoziierte man ihn im griechischen Altertum mit dem flinken Götterboten Hermes, bei den Römern Merkur genannt (genau genommen galt er nur als Abendstern als Hermes, als Morgenstern hielt man ihn für den Gott Apollo). Merkur war der Schutzpatron der Reisenden, der Kaufleute, aber auch der Diebe — also von Personenkreisen, die es meistens recht eilig haben.
 
Da Merkur innerhalb der Erdumlaufbahn um die Sonne kreist, weist er wie der Mond Phasen auf, ist also im Fernrohr mal als »Halbmerkur«, mal als »Vollmerkur« und mal nur als schmale Sichel zu sehen. Oberflächendetails sind dabei so gut wie gar nicht zu erkennen. Bis in die 1960er-Jahre blieb eine gezeichnete Merkurkarte aus den 1920er-Jahren die beste verfügbare Darstellung der Merkurtopographie. Erst als 1974/75 die Raumsonde Mariner 10 den Planeten besuchte, konnten sich die Astronomen ein realistisches Bild von diesem schwer zu beobachtenden Planeten machen.
 
Die Oberfläche des 4 878 Kilometer durchmessenden Merkur (zum Vergleich: der Durchmesser des Erdmonds beträgt 3 476 Kilometer) konnte im Detail erst untersucht werden, als man den Planeten mittels Radar zu erkunden begann. Dabei konnte man zwar keine allzu deutlichen Karten seiner Oberfläche erstellen, die Radarbeobachtungen ermöglichten es aber, mit einem lang gehegten Mythos aufzuräumen. Man vermutete nämlich, dass der Merkur der Sonne immer dieselbe Seite zuwendet, ebenso wie dies beim Mond und der Erde der Fall ist. Dieses Phänomen wird gebundene Rotation genannt, beim Erde-Mond-System beruht es auf der Tatsache, dass sich der Mond während eines Umlaufs um die Erde exakt einmal um die eigene Achse dreht. Beim Merkur zeigten die Radarmessungen jedoch, dass er sich in etwa 58 Tagen und 15 Stunden um seine Achse dreht, während ein Merkurjahr 87 Tage und 23 Stunden dauert, beide Perioden verhalten sich exakt wie 2 : 3. Man nennt ein derartiges Gleichverhalten zwischen Umlaufbahn und Rotation eines Himmelskörpers auch eine Resonanz.
 
Mariner 10 beobachtete ein schwaches Magnetfeld, das auf einen glutflüssigen Kern schließen lässt. Da Merkur eine ähnliche Dichte wie die Erde hat, dürfte dieser Kern ebenso wie der Erdkern aus Eisen und Nickel bestehen. Zur allgemeinen Überraschung wies die Sonde auf Merkur auch eine Atmosphäre nach, die jedoch aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung und eines so geringen Drucks, dass sie fast nicht vom Vakuum zu unterscheiden ist, der Erdatmosphäre in keiner Weise ähnlich ist.
 
 Die Merkurbahn und die allgemeine Relativitätstheorie
 
Die elliptische Umlaufbahn des Merkur um die Sonne weicht — nach der Bahn des Planeten Pluto — am stärksten von allen Planetenbahnen von der Kreisform ab. Zwar bewegen sich auch die anderen Planeten auf Ellipsen um die Sonne, jedoch sind diese meist nahezu kreisförmig, man sagt auch, sie haben eine wesentlich geringere Exzentrizität als Merkur. Bereits im 19. Jahrhundert war bekannt, dass die Merkurbahn nicht starr im Raum liegt, sondern sich ganz allmählich um die Sonne dreht. Das Perihel, der sonnennächste Punkt der Bahn, rückt dabei in 100 Jahren um einen Winkel von etwa 0,16 Grad weiter. Merkur kehrt nach einem Umlauf um die Sonne also nicht genau an seinen Ausgangspunkt zurück; zeichnet man die Bahn über viele Merkurjahre hinweg auf, so ergibt sich ein Schleifenmuster, ähnlich einer Rosette.
 
Man versuchte im 19. Jahrhundert mit Berechnungen auf Basis der newtonschen Gravitationstheorie zu zeigen, dass diese Perihelbewegung allein durch die Anziehungskräfte der übrigen Planeten verursacht würde. Derartige Rechnungen konnten aber nur etwa 93 % des Effekts erklären. Die restlichen 7 %, mit immerhin 42 Bogensekunden pro Jahrhundert zu groß, um nur ein Messfehler zu sein, blieben ungeklärt. Einer der damals gängigsten Lösungsvorschläge war die Annahme eines weiteren Planeten, der noch innerhalb der Merkurbahn um die Sonne kreisen sollte. Er hätte jedoch so groß sein müssen, dass er sehr oft vor der Sonnenscheibe vorbeiwandern und dabei sichtbar sein müsste — was jedoch nie geschah; einen solchen Planeten gibt es nicht, wie man mittlerweile weiß.
 
Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie bot schließlich eine einfache Erklärung für die fehlenden 7 %: Nach dieser Theorie entspricht jede von einer Masse verursachte Schwereanziehung einer Krümmung des Raumes. Der Raum in der Nähe der Sonne ist daher durch die hohe Sonnenmasse gekrümmt. Stellt man sich den Raum als (zweidimensionales) flaches Tuch vor, so befände sich am Ort der Sonne eine deutliche Einbuchtung, deren Auswirkungen bis über die Merkurbahn hinaus reichten. Während seiner Umläufe um die Sonne rollt Merkur sozusagen in diese Delle hinein und wieder hinaus. Das Eintauchen Merkurs in diesen Schwerkrafttrog stört seine Bahn und bewirkt die zusätzliche Drehung des Merkurperihels.
 
Dieses außergewöhnliche Verhalten des Merkur wurde — neben der Beobachtung der Ablenkung von Sternenlicht durch die Sonne während einer totalen Sonnenfinsternis — einer der beiden wichtigsten experimentellen Beweise für Einsteins Theorie. Erst in den 1950er- und 1960er-Jahren, als neue und bessere Messgeräte wie Laserinterferometer und hochgenaue Atomuhren verfügbar wurden, konnte man die Gültigkeit der Theorie mit weiteren Experimenten bestätigen.
 
 Ein Tag wie zwei Jahre
 
Das ungewöhnliche Verhältnis von Rotations- zu Umlaufperiode führt zu bemerkenswerten Konsequenzen. Anders als bei vielen anderen Resonanzen im Sonnensystem sind beide Werte nicht gleich, sondern stehen im Verhältnis 2 : 3. Beim Erdmond beispielsweise betragen sowohl Rotationsperiode als auch Umlaufperiode etwa 29 Tage, der Mond weist der Erde daher immer dieselbe Seite zu. Beim Merkur ist das anders. Hier beträgt die Rotationsperiode nur 2/3 der Umlaufperiode, dies bedeutet, dass der Merkur erst nach zwei Umläufen beziehungsweise drei Umdrehungen um die eigene Achse der Sonne wieder dieselbe Seite zuweist; ein Merkurtag — die Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen — dauert zwei Merkurjahre!
 
Zurückzuführen ist dies auf eine ungleichmäßige Verteilung der Masse innerhalb des Planeten. Man beschreibt solche Massenverteilungen mit Hauptträgheitsachsen, gedachten Achsen, die sich im Schwerpunkt des Planeten treffen und deren Länge die Ungleichverteilung der Massen wiedergibt. Eine völlig symmetrische Kugel besitzt drei gleich lange Hauptträgheitsachsen, die in die drei Raumrichtungen weisen. Bei Merkur ist hingegen eine dieser Achsen deutlich kürzer als die beiden anderen. Im sonnenfernsten Punkt (Aphel) seiner Umlaufbahn weist diese kürzere Achse auf die Sonne, im sonnennächsten Punkt (Perihel) steht sie jedoch senkrecht zur Sonnenrichtung. Die Anziehungskraft der Sonne beschleunigt daher die Drehung des Planeten, solange sich Merkur vom Aphel zum Perihel bewegt, und bremst sie, wenn er vom Perihel zum Aphel zurückkehrt. Merkur hatte vermutlich früher einmal eine schnellere Rotationsperiode. Über lange Zeiträume hinweg führte die Gezeitenwirkung, welche die Sonne auf den ungleichmäßig aufgebauten Merkur ausübt, zu einer allmählichen Abbremsung, bis Beschleunigung und Bremsung während eines Merkurjahrs genau ausgeglichen waren.
 
Dieser extrem lange Tag führt zu seltsamen Effekten auf dem Merkur. Ein Beobachter, der sich auf der Oberfläche des Planeten befindet, würde die Sonne allmählich aufgehen sehen, bis sie sich am höchsten Punkt des Himmels, dem Zenit, befindet. Dabei wächst ihr scheinbarer Durchmesser immer mehr an. Im Zenit würde die Sonne erst einmal stehen bleiben und sogar ein wenig zurückwandern, bevor sie allmählich ihren Weg zum Horizont fortsetzt und dabei wieder kleiner wird. In der gleichen Zeit wandern die Sterne fast dreimal so schnell — und gleichmäßig — über den Himmel wie die Sonne.
 
 Mariner 10
 
Durch Merkurs extreme Nähe zur Sonne ist der Einsatz des Weltraumteleskops Hubble ausgeschlossen. Schon ein kleiner Positionierfehler oder eine ungünstig verlaufende Drehung in Richtung des Planeten könnte die Optik der intensiven Sonnenstrahlung aussetzen, mit der möglichen Folge eines Ausbrennens der empfindlichen elektronischen Detektoren. Daher bleibt den Astronomen nur der Einsatz erdgebundener Teleskope, wenn sie die Eigenschaften des Merkur studieren wollen. Mit einer Ausnahme: Zwischen März 1974 und März 1975 zog die Raumsonde Mariner 10 dreimal am Merkur vorbei, fotografierte etwa die Hälfte der Oberfläche und nahm eine Reihe von physikalischen Messungen vor.
 
Die etwa 500 Kilogramm schwere Raumsonde wurde in den frühen Morgenstunden des 3. November 1973 vom amerikanischen Raumfahrtzentrum Cape Canaveral im US-Staat Florida aus mit einer Atlas/Centaur-Rakete in den Weltraum gestartet. Nach einem etwa halbstündigen Aufenthalt in einer irdischen Parkumlaufbahn zündeten die Raketen zum Start Richtung Sonne. Dabei nutzten die Raumfahrtingenieure aus, dass auf den Planetenbahnen — in erster Näherung — ein Gleichgewicht zwischen Fliehkraft und Anziehungskraft der Sonne herrscht, je näher ein Planet um die Sonne läuft, desto geringer ist seine Fliehkraft. Daher genügt es, die tangentiale Geschwindigkeitskomponente der ursprünglich mit der Erde mitlaufenden Sonde abzubremsen (wodurch ihre Fliehkraft abnimmt), um sie so weit an die Sonne anzunähern, bis ein neues Gleichgewicht zwischen Sonnenanziehung und Fliehkraft erreicht ist. Auf seiner von vielen Pannen begleiteten Reise zum Merkur passierte Mariner 10 am 3. März 1974 die Venus, wobei deren Gravitation zur weiteren Kurskorrektur genutzt wurde. Alle Probleme konnten aber während des Flugs wieder behoben werden, sodass die Sonde im März 1974 ihre Beobachtungen von Merkur aufnehmen konnte.
 
Die Sonde wurde dabei nicht in eine Umlaufbahn um den Planeten gesteuert, sondern blieb in einer Sonnenumlaufbahn, in der Mariner 10 dreimal in etwa 1 000 Kilometer Entfernung am Merkur vorbeizog, nämlich am 29. März und 21. September 1974 sowie am 16. März 1975. Leider war während aller drei Passagen dieselbe Merkurhemisphäre beleuchtet, sodass nur etwas mehr als die Hälfte der Planetenoberfläche vermessen werden konnte. Nach der dritten Passage war schließlich der für weitere Kurskorrekturen notwendige Treibstoff aufgebraucht und die Sonde wurde abgeschaltet.
 
Böschungen
 
Mit Mariner 10 war zum ersten und bisher einzigen Mal ein direkter und ungetrübter Blick auf die Merkuroberfläche möglich. Diese ähnelt stark der Mondoberfläche, denn sie ist von unzähligen Kratern überzogen, die von Meteoriten und Kometenkernen vor allem während der Entstehungsphase des Sonnensystems erzeugt wurden. Dominiert wird die Merkuroberfläche durch einen riesigen Einschlagkrater, der mit glutflüssigem Gestein aufgefüllt wurde. Sein Durchmesser von 1 300 Kilometern — ein Drittel des Merkurdurchmessers — umfasst fast ein Elftel des Merkurumfangs. Auf die Erde übertragen entspricht dies einer Fläche, die nur wenig kleiner ist als der Nordatlantik. Ein ähnlich gewaltiger Zusammenstoß zweier Himmelskörper vergleichbarer Größe gilt übrigens als möglicher Ursprung des Erdmonds.
 
Während Anzeichen für Plattentektonik oder Vulkane auf dem Merkur fehlen, zeigen bis zu drei Kilometer hohe »Böschungen«, dass es in der planetaren Geschichte durchaus geologische Veränderungen gegeben hat. Der zunächst glutflüssige Planet kühlte langsam ab und schrumpfte dabei zusammen. Da tektonische Prozesse fehlen, mit denen Teile der erstarrenden Oberfläche in das Innere des Planeten transportiert werden konnten, wobei Wärme abgeführt worden wäre, zog sich die Oberfläche insgesamt zusammen, ähnlich wie ein Apfel, der auszutrocknen beginnt und »Falten« bekommt.
 
 
Verblüffenderweise wies Mariner 10 ein schwaches Magnetfeld am Merkur nach. Da die gängige Theorie über planetare Magnetfelder Strömungen im glutflüssigen Kern des Planeten voraussetzt, bedeutet dies, dass Merkur einen solchen Kern besitzen sollte. Allerdings wird diese Deutung auch angezweifelt. Alternative Erklärungen bauen darauf auf, dass die metallhaltigen Mineralien an der Oberfläche eine Art Restmagnetismus aufweisen, der dem Planeten in seiner Frühzeit durch das Magnetfeld der Sonne aufgeprägt wurde.
 
Fire and Ice
 
Die Sonne bestimmt das Klimageschehen auf dem Merkur. Aufgrund seiner dünnen Atmosphäre können sich auf dem Planeten jedoch keine Klimazonen wie auf der Erde ausbilden. Die Temperaturen werden allein vom Sonnenstand und der momentanen Entfernung zur Sonne bestimmt. Bei Tag klettern sie daher auch auf über 450 Grad Celsius, während sie bei Nacht unter —150 Grad Celsius fallen. Trotz dieser krassen Temperaturen gibt es Regionen, in denen Anfang der 1990er-Jahre Hinweise auf das Vorkommen von Wassereis gefunden wurden: Durch Verbesserungen in der Radartechnik fand man in polnahen Kratern Gebiete, die Radarstrahlung extrem gut reflektieren, und zwar in einer Art, bei welcher der Strahl auf spezifische Weise verändert wird, wie man es bei anderen eisbedeckten Himmelskörpern beobachtet.
 
Obwohl man erwartet, dass Eis bei höherer Temperatur direkt in das Vakuum des Weltraums verdampft, könnten Kraterwände einen Teil des Bodens ständig abschatten, sodass dort permanent tiefe Temperaturen herrschen, bei denen das Eis überdauern kann. Derartige Beobachtungen, die unter anderem auch beim Mond gemacht wurden, lassen sich allerdings auch durch Metallsalze oder reine Metalle erklären.
 
 Mit Messenger zum Götterboten?
 
Die Ergebnisse von Mariner 10 sowie die Schwierigkeiten bei der erdgebundenen Merkurbeobachtung haben so viele Fragen offen gelassen, dass man bei der NASA im Rahmen des DISCOVERY-Programms, zu dem auch die Marssonde Pathfinder und die Kometensonde Stardust gehören, über eine neue Sonde zum Merkur nachdenkt. Bei einem möglichen Startdatum um 2004 könnte die projektierte Merkursonde MESSENGER (MErcury Surface, Space ENvironment, GEochemistry and Ranging; das Akronym bedeutet, zusammen gelesen, »Bote«) nach einer längeren Reise durch das innere Sonnensystem etwa 2009 eine Umlaufbahn um den Merkur erreichen. Dort soll sie mit einer Vielzahl von modernsten Instrumenten unter anderem den tektonischen Aufbau, die Oberflächenzusammensetzung und die Eiskappen des Planeten untersuchen.
 
 
Herrmann-Michael Hahn: Erde, Sonne und Planeten. Neuausgabe München 1981.
 Rainer Klingholz: Marathon im All. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1992.
 
Meyers Handbuch Weltall, Beiträge von Joachim Krautter u. a. Mannheim 71994.
 
Lexikon der Astronomie, bearbeitet von Rolf Sauermost. 2 Bände. Lizenzausgabe Heidelberg 1995.
 Helmut Zimmermann: ABC-Lexikon Astronomie. Heidelberg 81999.

Universal-Lexikon. 2012.

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